Lieber Lesende, stelle dir vor, es gibt jemanden, der alles über dich weiß. Ein Unbekannter, der erst nur deinen Wohnort, dann deinen Namen kennt und langsam immer mehr über dich zu wissen scheint. Er kann genau sagen, wann du gehst und wann du zurückkommst, was du währenddessen getan hast und was in der Zeit in deinem Haus passiert ist. Dabei zeigt er sich dir nie, aber du weißt ganz genau, dass er da ist, denn er will, dass du es weißt. So erging es der Familie Broaddus im Jahr 2014. Netflix hat dieses Geschehen nun in die Serie The Watcher gebettet. Wie weit sich die Serie an der Wahrheit bewegt, möchten wir in diesem Artikel erkunden. Dafür müssen wir ins Jahr 2014 zurückkehren – zum Haus Boulevard 657 in Westfield, New Jersey.
Familie Broaddus Traum wird zu einem Alptraum
Sechs Schlafzimmer, zwei moderne Badezimmer, wunderschön verarbeitete hohe Wände, ein einladender Kamin, eine überdachte Veranda und eine offene, sonnige Terrasse: Derek und Maria Broaddus sind sich sicher, ihr Traumhaus gefunden zu haben. 1,355 Millionen Dollar zahlt die Familie für das frisch renovierte Haus mit einer Wohnfläche von insgesamt 364 Quadratmeter. Für diese Gegend ein Schnäppchen und der Immobilienmakler verspricht der Familie eine nette Nachbarschaft, sehr gute Schulen und für den Vater nur eine vierzig minütige Fahrt zur Arbeit nach New York. Es ist einfach perfekt.
Während sich Derek und Maria Broaddus darauf freuen, mit ihren drei Kindern bald aufs Land zu ziehen, gibt es noch einiges für das Paar an dem Haus zu tun. Sie wollen einige Renovierungsarbeiten vornehmen und Zimmer vorbereiten und finden bei ihrem Besuch im neuen Heim, nur drei Tage nach der Unterzeichnung des Kaufvertrages, einen Brief.
Liebste neue Nachbarn am 657 Boulevard, gestatten Sie mir, Sie in der Nachbarschaft willkommen zu heißen. […] Mein Großvater begann das Haus in den 1920ern zu beobachten, mein Vater beobachtete es in den 1960ern. Jetzt ist meine Zeit gekommen. […] Wissen Sie, was sich hinter den Mauern von 657 Boulevard verbirgt? […] Wer ich bin? Es gibt Hunderte und Aberhunderte von Autos, die jeden Tag am 657 Boulevard vorbeifahren. Vielleicht bin ich in einem. […] Willkommen, meine Freunde, willkommen. Lasst die Party beginnen. The Watcher.
Ein Scherz von einem Jugendlichen? Ein Nachbar mit eigensinnigem Humor? Zumindest kein Grund für Panik, höchstens für ein skeptisches Lächeln. Doch zwei Wochen später, im warmen Juni, trifft der zweite Brief ein und langsam aber sicher bekommen die Broaddus Angst.
Die Fenster und Türen im 657 Boulevard lassen mich euch beobachten, wie ihr durch das Haus geht. Es freut mich, dass ich jetzt eure Namen und die Namen des jungen Blutes kenne. […] Ich habe den Woods gesagt, dass sie mir junges Blut bringen sollten. […] Haben sie sich daran gehalten? Und wo spielen sie denn, im Keller? Oder haben sie zu viel Angst?
Tatsächlich haben die Broaddus im Keller ein Spielzimmer für die Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter eingerichtet. Und die Woods waren die Vorbesitzer, von denen sie das Haus gekauft haben. Während der Name Woods vielleicht noch recht einfach in Erfahrung zu bringen ist, insbesondere wenn der Schreibende in der Gegend lebt, erschaudert die Tatsache, dass er weiß, was die Boraddus mit dem Keller geplant haben. War er in ihrem Haus? Wie gefährlich ist der Schreibende für die Familie? Das Paar kontaktiert die Polizei. Doch eine Antwort hat diese bis heute nicht gefunden.
Der Fall The Watcher
Bereits nach dem zweiten Brief entscheidet sich die Familie Boraddus, nicht mehr in ihr Traumhaus zu ziehen. Sie wollen nur die Renovierungsarbeiten, die sie geplant haben, umsetzen und dann das Haus vermieten. Doch es kommen weitere Briefe. Immer bedrohlicher, immer unfreundlicher.
Die Polizei nimmt den Fall von Anfang an ernst und sieht vorerst alle Nachbarn als mögliche Verdächtige. Während die Polizei ermittelt, nimmt die Familie Boraddus mit der Familie Woods Kontakt auf. Und tatsächlich hatte diese Familie ebenfalls einen Brief erhalten, aber nur einen am Ende der dreiundzwanzig Jahre, kurz bevor sie aus dem Haus ausgezogen sind. Familie Woods hat den Brief nicht ernst genommen und weggeworfen, daher kann man nicht sagen, was genau drin stand.
Familie Boraddus führt die Renovierungen fort, behält die Kinder immer im Blick und versucht, auf die Nachbarn normal und entspannt zu wirken. Bei einer Führung durch das Haus bekommt Derek Boraddus es jedoch erneut mit der Angst zu tun, als eine Frau sagt, dass es schön sein wird, in der Nachbarschaft wieder junges Blut zu haben. Eine daher gesagte Floskel, die durch Zufall den Worten des Watcher entspricht?
Die Eltern halten ihre Kinder fortan von dem Haus fern und der nächste Brief, der eintrifft, fragt nach dem Verbleib eben jener Kinder. Das Vertrauen in die Nachbarschaft hat Familie Boraddus aufgegeben. Besonders verdächtig kommt ihnen ihr Nachbar Michael Langford vor. Sein Alter und die Zeit, die seine Familie schon in der Nachbarschaft lebt, passt mit dem ersten Brief überein. Zudem ist er der typische eigentümliche Nachbar, der Kindern Angst einjagt. Hinzu kommt, dass Derek Boraddus über Gespräche mit anderen Nachbarn herausfindet, dass Michael Langford seit seiner Jugend unter Schizophrenie leidet. Die Polizei schließt Michael Langford jedoch sehr schnell aus.
Die Boraddus entscheiden sich dazu, Boulevard 657 mit einem Sicherheitssystem auszustatten und stellen einen ehemaligen FBI-Agenten als Privatdetektiv ein. Sie wollen unbedingt wissen, wer der Watcher ist und dem Stalking ein Ende setzen. Doch am Ende kann auch dieser ihnen nicht weiterhelfen. Nur eine DNA-Spur auf den Briefen lässt vermuten, dass der Watcher eine Frau ist.
Um endlich Ruhe zu haben, beschließt die Familie, das Haus zu verkaufen. Doch die Briefe schrecken alle möglichen Käufer ab und Familie Boraddus verklagen den Immobilienmakler und die Familie Woods. Sie hätten sie über den Stalker informieren müssen.
Ein Jahr nach dem ersten Brief versucht die Polizei nochmals, den Fall aufzurollen. Sie finden heraus, dass auch eine andere Familie einen Brief erhalten hat, diesen jedoch nicht ernst genommen hat. Zudem beobachtet einer der Polizisten, wie eine junge Frau nachts vor dem Haus hält. Interessanterweise soll ihr fester Freund, der in der Nähe wohnt, in Videospielen gerne den Namen The Watcher nutzen. Doch ohne Beweise kann die Polizei ihn nicht zu einer Aussage zwingen. Während die Polizei noch immer versucht, herauszufinden, wer der Watcher ist, sind sich die Nachbarn von Boulevard 657 sicher, dass die Familie Boraddus sich selbst die Briefe geschrieben hat. Der Grund in ihren Augen? Ein Versicherungsbetrug. Am Ende bleibt die Frage nach dem Watcher jedoch ungeklärt.
Die Serie The Watcher von Netflix
So viel Wahrheit steckt drin
Die Namen hat Netflix auf Wunsch der Familie Boraddus geändert. Das Alter der Kinder stimmt ebenfalls nicht, zudem ist die Familie Boraddus nie in ihr neues Haus eingezogen. Auch tote Haustiere gab es nicht, wurden jedoch angeblich in einem Brief angedroht.
Tunnel unter dem echten Haus wurden auch nie gefunden und der Mord von John Graff? Nun, den gab es wirklich. Jedoch einige Straßen weiter und der Name des Mörders war John List. Er schaffte es, 18 Jahre lang der Polizei zu entfliehen, bevor er verhaftet und verurteilt wurde. 2008 starb er in Haft an einer Lungenentzündung.
Alle anderen Verdächtigen in der Serie von Netflix stehen stellvertretend für mögliche Motive des echten Täters. Dabei werden jedoch etliche Details ausgeschmückt, um einen gruseligen Effekt zu erzielen. Ein Mädchen, das nachts im Schlafzimmer umherschleicht, gibt es zum Beispiel nicht. Und das wohl wichtigste geänderte Detail, nachdem die Familie Boraddus Boulevard 657 endlich verkaufen konnte: Es herrschte Ruhe. Kein Brief des Watchers belästigt die neue Familie.
Ihr möchtet noch mehr Informationen zu dem Fall. Hier gibt es weitere Artikel und Videos von anderen Portalen:
- The Eerie Case of the Watcher
- Die Traumvilla, die sich als Horrorhaus entpuppte
- Katie Winter YouTube
- Insolito YouTube
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